Sei nicht die erste Mauer

Eine Einladung, deine Kinder wirklich zu sehen

Manchmal glauben wir, unsere Kinder zu kennen. Weil wir sie zur Welt gebracht, gewickelt, getröstet, gefüttert haben. Weil wir ihre Wutanfälle miterlebt und ihre Träume belächelt haben.

Wir wissen, was sie „dürfen“. Was sie „brauchen“. Was „richtig“ für sie ist.

Oder?

Doch was, wenn wir uns irren? Was, wenn sie – von Anfang an – ganze Welten in sich tragen, die größer sind als unsere Begriffe von richtig und falsch?

Vielleicht bist du gerade versucht, ihre Flügel zu stutzen, weil du ihre Richtung nicht verstehst. Vielleicht willst du ihre Farben ordnen, weil sie nicht in dein eigenes Muster passen.

Ich kenne das. Ich habe gehört: 

„Wie siehst du denn aus?“ 

„Was sollen die Nachbarn denken?“

Manchmal war es nur ein Satz – und doch blieb er wie eine kleine Narbe im Herzen.

Kinder sind keine unbeschriebenen Blätter. Sie sind Geschichten, die wir erst zu lesen lernen dürfen.

Das bedeutet nicht, dass sie keine Grenzen brauchen. Kinder brauchen Orientierung, Sicherheit und Halt. Aber gesunde Grenzen sind keine Mauern. Sie sind Leitplanken, die nicht klein machen – sondern schützen.

Neugier auf dein Kind heißt nicht, alles durchgehen zu lassen. Es heißt, genauer hinzuhören, bevor du urteilst. Es heißt, dich zu fragen:

• Was ist hier meine Angst – und was ist wirklich wichtig für mein Kind? 

• Geht es um meine Erwartungen oder um seine Bedürfnisse? 

• Was würde ich mir als Kind gewünscht haben?

Wenn du heute zuhörst, ohne gleich zu bewerten, wächst Vertrauen. Wenn du Raum gibst, ohne ständig zu lenken, wächst Mut. Wenn du dein Kind siehst, wie es ist – nicht wie du es gern hättest –, wächst Liebe.

Sei nicht die erste Mauer auf dem Weg deines Kindes. Sei der Boden, der nährt. Der Wind, der trägt. Die Sonne, die wärmt.

Denn Kinder brauchen zweierlei: Wurzeln. Und Flügel.

Und manchmal bedeutet das, loszulassen, was du über sie zu wissen glaubst.

Khalil Gibran hat es so gesagt:

Ihr dürft euch bemühen, wie sie zu sein, aber versucht nicht, sie euch ähnlich zu machen.

Heute ist ein guter Tag, dich daran zu erinnern.

Wenn du magst, erzähl mir: 

👉 Welche Sätze in deiner Kindheit haben deine Flügel beschnitten – und welche haben sie wachsen lassen?